Prolog
Die Nacht frisst sich durch mich hindurch. Ich liege nur da, lausche seinen schmerzhaft gleichmäßigen Atemzügen, und mit einem Reißen wird mir bewusst, dass ich dieses Geräusch wohl nie wieder hören werde. Für mich wird sein Atem verklingen, sobald ich aufstehe und das Zimmer verlasse.
Die Tränen kommen und gehen. Wie Wellen, die über mir zusammenschlagen, hart genug, um mich in panische Angst zu versetzen. Wellen, die dann wieder in unwirklicher Gnade zurückweichen, um mich noch ein bisschen am Leben zu halten. Mein Herz macht ein paar hilflose Schläge, ehe es sich Atemzug für Atemzug Schicht für Schicht in Stein hüllt.
Für niemanden werde ich mehr wirklich klopfen, wispert es. Für niemanden.
Und auch, wenn es das nicht sagt, weiß ich doch, was es meint. Für niemanden, das bedeutet: auch nicht für mich.
1
„Der Unterste war meiner“, zischt der Kerl und zieht seinen Fuß zurück, den er mitten in den Weg gestellt hat wie andere ihr Handgepäck.
„Tut mir leid“, krächze ich und kämpfe mich weiter den Gang des Zugabteils entlang. Mein überdimensionierter Rucksack bleibt an dem Mülleimer im Eingangsbereich hängen. „Okay“, atme ich aus, befreie ihn mit zittrigen Handgriffen und quetsche mich dann an ein paar Anzugträgern vorbei, nur um im nächsten Moment über ein Rad eines Kinderwagens zu stolpern. Rasch weiche ich dem vorwurfsvollen Blick der dazugehörigen Mutter aus.
Noch nie erschienen mir die Gänge eines ICE so schmal wie in diesem Moment. Jedes Zungenschnalzen rempelt gegen mein letztes bisschen Selbstbeherrschung wie ich gegen fremde Körper. Jedes genervte Brummen hallt von den Wänden meines Herzens wider als ein dumpfes Nicht genug.
„Entschuldigung“, murmle ich immer und immer wieder, und von Mal zu Mal erscheint es mir mehr, als erzählte ich in dem einen Wörtchen völlig Fremden peinlich berührt meine Lebensgeschichte.
Endlich erreiche ich mein Abteil, und mein Blick wandert die kleinen Zahlen über den Sitzen entlang. Bis ich wenige Meter entfernt meinen reservierten Fensterplatz entdecke. Und er ist tatsächlich noch unbesetzt.
„Können Sie nicht aufpassen?“ Der Mann mit den buschigen Augenbrauen erinnert mich in seiner Griesgrämigkeit an Bert aus der Sesamstraße.
Rasch murmle ich ein weiteres Mal die Miniaturausgabe meiner beschämenden Biografie und ziehe möglichst geradlinig weiter meines Weges. Dann erreiche ich meinen Platz – oder vielmehr den, den ich überwinden müsste, um meinen Platz zu erreichen. Und so blicke ich nur von schräg oben auf schwarze Locken und weiß nicht recht, was ich tun soll. Das linke Knie des zu den Locken gehörenden Typen wippt vor sich hin, seine Schultern bewegen sich kaum wahrnehmbar im gleichen Takt, in dem seine Finger auf der Armlehne tanzen.
Ich räuspere mich, doch die roten Kopfhörer versperren dem zögerlich vorgetragenen Laut den Weg in sein Ohr. Unbeholfen verlagere ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, in der Hoffnung, dass er die Bewegung und damit auch mich wahrnimmt. Und tatsächlich, wie mitten aus der Musik gerissen blickt er auf. Für einen Moment starrt er mich an, als wäre er erstaunt, genau mir hier zu begegnen.
Als ich auf das Reserviert-Schild für den Fensterplatz neben ihm deute, folgt sein Blick irritiert meinem Finger, dann rappelt er sich beinahe hektisch auf. Die Riemen meines Riesen-Rucksacks fest umfasst, sehe ich hoch zur mickrigen Gepäckablage. Gott, da passt der niemals drauf. Überfordert gucke ich mich um.
„Soll ich …“, murmelt der Typ.
Verwundert zuckt mein Blick zu ihm, und er weist mit fragender Miene auf die große Gepäckablage ein paar Meter weiter am Ende des Ganges. Als ich dankbar nicke, folgt er mir und hilft mir dann, das Ungetüm von meinem Rücken und auf den einzigen ausreichend großen Platz hinauf zu hieven.
„Wow“, macht er leise, und es klingt eher, als hätte es die Bedeutung eines Uff. Das Wissen um das Gewicht meines monströsen Reisebegleiters treibt die Hitze in meine Wangen.
Gut vier Wochen, würde ich gern erklären, und vielleicht würde ich auch noch etwas über Uni-Bücher sagen. Doch da ist er ohnehin schon auf dem Rückweg zu unseren Plätzen, sodass ich mich beeile, ihm zu folgen, um ihn nicht auch noch warten zu lassen.
Während er mich durchrücken lässt, begegnen sich kurz unsere Blicke – mein verheulter und seiner, dessen Funkeln mich so etwas wie innerlich blendet. Blinzelnd sehe ich auf den mit Flecken übersäten Boden. Ist das Cola? Es klebt wie Cola. Meine Schritte hinterlassen ein leises Schmatzen, ehe ich mich endlich in die Polster sinken lasse.
Dann mache ich es ihm gleich, krame meine Kopfhörer aus der Handtasche, stecke sie mir in die Ohren und erwecke meinen mp3-Player zum Leben. Lasse ich nun meine Gedanken zu laut werden, brabbeln sie allesamt wenig hilfreich durcheinander, obwohl sich jeder von ihnen nur die gleiche gefühlsüberladene Erkenntnis von der Seele reden will: Du, liebe Anna, bist so etwas von nicht genug.
Also umklammere ich die Tasche, um keinen Anruf zu verpassen, der etwas ändern könnte. Ich lehne die hämmernde Schläfe gegen die kühle Scheibe, lausche einzelnen Takten, als gelte es, ein gemorstes Diktat zu schreiben, und beobachte bei jedem Ruckeln des Zuges das Farbspiel meiner Haare im Sonnenlicht.
Braun. Rot. Braun. Rot und Braun in einem einzigen nicht sehr tiefen Atemzug. Längere Phase Rot. Braun.
Bereits vier Lieder später warnt mich mein Player mit einem blinkenden Lämpchen vor dem nahenden Ende der Musik, ehe zu wenige Songs später sein Akku stirbt. Herrlich metaphorisch. Und auch etwas melodramatisch. Ich wünschte, ich könnte den Player gegen mein Handy tauschen, doch ich wage nicht, auch dessen ohnehin schwächelnden Akku auszureizen. Das Seufzen kämpft sich trotz meiner aufeinandergepressten Lippen aus mir heraus. Die Stöpsel lasse ich in den Ohren und gebe mich weiter, als wäre ich nicht etwa im Leid, sondern zwischen unzähligen Tönen versunken.
Da ist sie also, die Stille. Und ja, sie ist so laut wie befürchtet. Sie dröhnt in meinem Kopf und donnert mir, einer Abrissbirne nicht unähnlich, unzählige Fragen entgegen. Nach Nils, nach mir, unserem Scheitern und an sich …
Wie eben noch das Seufzen überwältigt mich mit einem Mal der Wunsch, meine Mutter anzurufen. Von ihr zu hören, dass die Welt ein Ort ist, der lauter wundervolle Dinge bereithält, auch wenn sie sich manchmal so unglaublich gut verstecken wie die Mitbringsel eines besonders talentierten Osterhasen im kniehohen Gras. Aus ihrem Mund wäre das eine wirklich gute Nachricht. Oder?
Und genau das ist der Gedanke, der inmitten der unbarmherzigen Stille für so viel Aufsehen sorgt, dass ich ihn nicht einfach nicht beachten kann. Wie ein Drache mitten auf dem Marktplatz steht er da und speit sein Feuer vor sich hin, als könne man nicht auch von innen heraus verbrennen. Ich rutsche etwas tiefer in den Sitz, um in Deckung zu gehen, ohne dass es auch nur irgendetwas bringt.
„Keine Ahnung, was du sonst so hörst.“
Die tiefe Stimme stellt sich diesem Ungeheuer so unerwartet in den Weg, dass ich mehr vor ihr als vor den Flammen zurückzucke und mit dem Kopf gegen die Scheibe knalle. Zischend ziehe ich die Luft ein und presse die Hand gegen die pochende Stelle. Dann wende ich mich meinem Sitznachbarn zu, der mich mit erhobenen Brauen betrachtet.
„Sorry“, murmelt er. „Ich dachte nur … Falls es dir um Ablenkung geht …“ Statt den Satz zu beenden, wedelt der Kerl mit einem seiner Kopfhörer herum. „Oh, ich hab …“ Seine andere Hand öffnet sich und offenbart einen kleinen roten Gummiaufsatz für den Kopfhörer wie eine Muschel ihre kostbarste Perle. „Der ist neu.“
Was …? Irritiert blicke ich von dem Gummiknubbel auf in sein Gesicht und wieder hinunter, als er ihn auch schon austauscht.
Er nickt in Richtung meines Fußraums. „Du hast vor zehn Minuten aufgehört, mit dem Fuß zu wippen. Schon klar, dass du krampfhaft so tust, als würde die Musik noch laufen – wieso auch immer. Aber langsam siehst du echt verzweifelt aus.“
Der Kopfhörer tanzt wie eine überdrehte rote Fliege zwischen unseren Gesichtern herum. Zur einen Hälfte peinlich berührt, zur anderen einfach nur dankbar, fange ich ihn ein und stecke ihn in mein ihm zugewandtes Ohr. Es läuft Town I called my home von yaeow, ein Lied, das ich so liebe und gerade auch so fühle, dass die Klänge in diesem Moment beinahe schon wieder mitten in meiner Brust scheuern.
Doch der Typ lächelt mir noch einmal so etwas wie aufmunternd zu und lässt sich dann gegen die Rückenlehne sinken. Er wirkt so entspannt, wie ich mich mit großer Wahrscheinlichkeit noch nie gefühlt habe. Langsam lehne ich mich zurück und versuche vergebens, seine Position nachzuahmen. Dann gebe ich auf und konzentriere mich erneut auf die Musik.
Seine Playlist folgt keinerlei logischem Schema – von lateinamerikanischen Rhythmen über Charts und Indie-Musik bis hin zu Songs, die ich noch nie gehört habe, ist alles dabei. Doch tatsächlich ergibt sie auf seltsame Weise Sinn, denn die meisten Lieder lassen mich mehr und mehr endlich den Boden unter den Füßen spüren. Bis sie plötzlich eine Etage zu tief sacken und über nackte Schienen zu rattern scheinen. Ofenbachs Be mine mimt Takt für Takt Hammer und Meißel für mein versteinertes Herz.
Ich zwinge mich, nicht den Kopfhörer aus dem Ohr zu reißen, und kneife die Lider zusammen. Doch dort lauern nur die zum Soundtrack gehörenden gerade einmal zwei Wochen alten Bilder. Nils und ich auf einer Party, tanzend zu eben diesem Lied. Da waren wir doch glücklich. Oder nicht?
Plötzlich fehlt mir sein Herzschlag, fehlen mir seine Atemzüge, fehlen mir sein schlechtes Tanzen und sein Geruch. Etwas fehlt, mitten in mir. Und das tut es zu oft, als dass ich die Augen noch geschlossen halten könnte. Als ich sie öffne, spüre ich, dass das, was gemeinsam mit den Bildern gebrannt hat, über meine Wangen fließt. Den Blick angestrengt auf die vorbeifliegenden Bäume gerichtet, wische ich mir möglichst unauffällig über das Gesicht.
Stille.
Dieses Mal aus den Kopfhörern.
Und noch während ich mich verwundert frage, ob das hier tatsächlich eine der guten Sorte ist, wird sie auch schon durch ein neues Lied ersetzt. Hoziers Work Song schmiegt sich mir so beruhigend ins Ohr, als wolle es noch mit einem feinborstigen Pinsel über jeden meiner überforderten Gedankengänge streichen.
Als ich zu ihm sehe, blicke ich dem Typen direkt ins Gesicht. Da ist keine Spur von Hohn, kein Mitleid, kein Augenrollen.
„Wenn du ein Lied nicht magst“, sagt er mit einem Schulterzucken, das meine Lächerlichkeit als nebensächlich deklariert, „dann stell einfach weiter.“
Ich nicke hastig, damit der Moment möglichst schnell an mir vorüberzieht. Er lehnt sich wieder zurück und schließt die Augen.
Wie macht der das nur – dieses Ding mit der entspannten Leichtigkeit inmitten meiner grauen Nebelschwaden? Noch während die Frage verzweifelt nach einer Antwort sucht, die auch mir ein Stück dieser Gelassenheit schenken könnte, beginnt von den unterdrückten Tränen meine Nase zu laufen. Doch in meiner Handtasche finde ich ausschließlich komplett durchweichte Taschentücher, die es vermutlich nur schlimmer statt besser machen würden. Immer hektischer wühlen sich meine Hände durch das taschentuchlose Chaos, und ich stehe bereits so kurz vor dem nächsten Zusammenbruch, dass eine
Weiterreise ohne Taschentücher keine Option ist.
Obwohl ich mich dadurch von einem Moment zum nächsten so viel ungeschützter fühle, atme ich erleichtert auf, als mein Sitznachbar aufsteht, den Gang hinunter verschwindet und mir wie selbstverständlich die Musik in Form seines Handys überlässt. Womöglich ist ihm die Situation langsam auch einfach nur selbst zu unangenehm, und er flieht vor mir, wie ich es liebend gern vor dem Rest der Welt tun würde.
Meine Nase kribbelt, und immer verzweifelter grabe ich in den Nebenfächern meiner Handtasche und den Taschen meiner Jeans, während der ohnehin klägliche Rest Hoffnung nach und nach zu einer weiteren Nebelschwade verpufft. Da kehrt er bereits zurück. Das ging schnell. Ich starre auf die Flecken vor meinen Füßen und flehe stumm, dass ich nicht gleich selbst meine Jeans volltropfe.
Im nächsten Augenblick zucke ich zusammen. Unter dem schützenden Vorhang meiner Haare hindurch erscheint eine Hand mit schwarzen Härchen darauf – voller dünner Papiertücher aus dem Handtuchspender der Zugtoilette. Während meine Haut aussieht, als hätte ich die vergangenen Jahre durchgehend im nordischsten Winter verbracht, erinnert mich seine in diesem finsteren Moment daran, dass auf jeden noch so kalten Winter ein Frühling folgt.
Sollte eine Hautfarbe so schön sein wie seine? Und Härchen – was ist mit denen? Doch mit großer Wahrscheinlichkeit liegt es lediglich an diesen wundervollen Taschentüchern, die so unerwartet zu mir gefunden haben, dass mir alles andere – Hand, Haut, Härchen – so übertrieben schön erscheint.
Brautkleid-Effekt.
Zögerlich greife ich nach dem dünnen Papier und putze mir mit einem die Nase, ehe ich mit einem zweiten die restlichen Tränen wegwische. Dann blicke ich auf und sehe ihn zum ersten Mal genauer an. Meine Augen sind vermutlich rot, seine haben die Farbe von dunklem Karamell. Und als sich auf seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitet, erreicht es in Blinzelgeschwindigkeit auch seine Augen. Da scheint das warme Braun heller zu werden. Können Augen das?
Und … starre ich?
„Ich dachte, ein bisschen Vorrat könnte nicht schaden.“ Den Rücken in den Sitz gedrückt, rutscht er ein wenig mit den Schultern hin und her, bis er wohl die gemütlichste Position gefunden hat.
Es ist mir ein Rätsel, wie er derlei Sätze aussprechen kann, ohne die geringste Wertung hineinzulegen. Als mein Blick wieder auf das Knäuel Taschentücher in meiner Hand fällt, durchzuckt mich etwas. Genau auf Brusthöhe, mittig. Es ist die Erinnerung daran, dass Nils mir vorgestern nicht einmal nachgekommen ist, als ich nach seinem Nein zu mir würgend über der Toilettenschüssel hing. Mit einem Mal bin ich mir nicht sicher, ob ich diesen Fremden mögen oder anschreien soll, weil er allein
durch sein Verhalten in der vergangenen Stunde etwas so sehr infrage stellt, woran ich zwei Jahre lang glauben wollte. Aber womöglich hat Nils das in den vergangenen Tagen schon selbst getan – verdammt viel infrage gestellt. Am meisten mich.
„Danke“, murmle ich rau.
Ruckartig wendet er mir sein Gesicht zu, seine Augenbrauen machen einen überraschten Satz nach oben. „Gern.“
Es war mein erstes Wort an den Fremden, und meine Stimme mag nach den vergangenen Stunden nicht recht wie etwas klingen, was ich kenne.
Aber es war ein Wort.
Es war ein Anfang.
Die Fahrt nach Mannheim dauert rund drei Stunden, in denen ich in der Juni-Sonne zergehe. Nach und nach trinke ich meine Flasche aus, und erstaunlicherweise gelingt es mir auch, ein ums andere Mal die aufkeimenden Tränen hinunterzuschlucken. Manchmal stelle ich ein Lied weiter, manchmal er. Gern würde ich ihn fragen, wonach er entscheidet, was er gerade nicht hören will. Ob auch er diese Geister kennt, die durch bestimmte Klänge aufgescheucht werden? Er sieht nicht aus wie einer, der mit Geistern lange fackelt, eher wie einer, der Jagd auf sie macht.
Als das nächste Mal ein neuer Song beginnt, scheint es im ersten Moment, als wolle er ihn weiterstellen, dann zieht er den Kopfhörer aus seinem Ohr, lächelt mir kurz so zu, dass ich wünschte, ich könnte es erwidern, und verschwindet. Dass er mir immer einfach so sein Handy hierlässt …
Es dauert nicht lange, da taucht er wieder auf – in seinen Händen zwei Flaschen Wasser, von denen er mir eine hinhält, sobald er neben mir sitzt. Zögerlich greife ich danach. Sie ist herrlich kalt.
„Danke“, nuschle ich überfordert.
Schnell wische ich mir das Kondenswasser an der Jeans ab und krame nach meinem Portemonnaie, doch als ich es gefunden habe, winkt er mit einem gemurmelten „Kein Ding“ ab.
„Oh, danke.“ Verlegen wende ich mich zum Fenster und frage mich, ob es mir wohl gelingen wird, ihm gegenüber heute noch ein anderes Wort herauszubekommen. Das Oh zählt vermutlich nicht.
„Gern“, erwidert er nur.
In der Scheibe spiegelt sich sein Gesicht. Die Art, wie er die Augen schließt und wieder der mich erdenden Musik lauscht, lässt etwas in mir auf seltsame Weise ruhiger werden.
Ich nehme einen großen Schluck Wasser und muss ein weiteres Mal an Nils denken, der sein Geld hortet, als hinge sein Leben von jedem einzelnen Cent ab. Eingeladen hat er mich nur an meinem Geburtstag, und selbst dann habe ich immer auf die Preise in der Speisekarte geschielt, um keinen wortlosen, doch leise dahingeseufzten Vorwurf zu riskieren. Ebenfalls mit einem Seufzen wische ich auch diese Erinnerung weg. Gerade will ich weder die guten noch die schlechten.
Dass der Fremde die gesamte Fahrt über neben mir sitzt, hebt eine kleine Last von meinen Schultern, ohne dass er sich dafür noch einmal großartig rühren müsste – ich habe weder Stille noch Gespräch zu fürchten. Da ist nur diese Schutzmauer aus Körper und Klängen zwischen der Welt und mir. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass sich lange niemand um mich gekümmert hat wie dieser Mann, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Der Gedanke bindet einen Knoten in meinem Bauch – ganz gemächlich, dafür aber auch ganz schön fest.
Aus dem Augenwinkel blicke ich zu dem Kerl am anderen Ende der roten Rettungsleine, die unsere Ohren wie Schleppkahn und gekentertes Bötchen verbindet. Ich kenne ihn nicht, und er weiß nicht einmal, wie ich aussehe, wenn ich lächle. Als mir klar wird, wie fremd er mir tatsächlich ist, bin ich mit einem Mal unsagbar gerührt. Der Knoten in meinem Bauch lockert sich etwas, und ich nehme einen halbwegs tiefen Atemzug, mit dem ich heute schon nicht mehr gerechnet hätte.
Eine Viertelstunde vor Mannheim ziehe ich den Kopfhörer aus dem Ohr, und er macht schon Anstalten aufzustehen, um mich rauszulassen.
„Nein danke.“ Schon wieder dieses Wort. Aber immerhin auch ein Nein. Verwundert sieht er mich an. „Mir fiel nur eben auf, dass ich nicht einmal weiß, wie du heißt“, füge ich leise hinzu.
Dieser Typ lächelt echt erstaunlich gern. „Sam. Also Samuel aber … Sam. Und du?“
„Anna.“ Und nun weiß er auch, wie ich aussehe, wenn ich lächle. Wenn auch kläglich. Dann stecke ich den Kopfhörer wieder ins Ohr. „Ich mag deine Musik, Sam.“
Sein Name fühlt sich weich an den Lippen an. Ob seine Freunde oft lächeln, wenn sie ihn rufen? Denn irgendwie hinterlässt das M am Endes seines Namens das Bedürfnis. Sammm … Herrje, habe ich jemals so viel über eine einzelne Silbe nachgedacht?
„Freut mich sehr zu hören, Anna.“ Grinsend steckt auch er seinen Kopfhörer wieder ins Ohr. Seine Augen sind wirklich, wirklich ungewöhnlich …
Einige Minuten später packe ich meine Sachen zusammen, Sam macht das Gleiche mit seinen, und kurz bevor wir den Bahnhof erreichen, gebe ich ihm den Kopfhörer zurück. „Danke. Du hast mich ein bisschen gerettet.“
„Es war mir eine Ehre.“
Da entfährt mir vollkommen unerwartet die Miniaturausgabe eines Auflachens. Mit einem Mal wirkt er ungemein zufrieden, steht auf und hievt seinen Koffer und meinen Rucksack von der Gepäckablage herunter. Dann warten wir schweigend am Ausgang des Waggons, bis wir aussteigen können. Sams Finger trommeln jetzt auch ohne Musik unentwegt auf den Griff seines Koffers herum. Zu gern wüsste ich, wer oder was ihn in Mannheim wohl erwartet. Seine Unruhe mag nicht recht zu dem Bergungsschiff passen, dessen Rettungsleine mich die vergangenen Stunden an der Oberfläche gehalten hat, sodass das Wasser nicht mehr als Tränen bis in meine Augen steigen konnte.
Sobald sich die Türen zischend öffnen, hebt Sam unser Gepäck hinaus, und als wir uns so gegenüberstehen, fällt mir auch nichts Wortgewandteres ein als noch ein „Danke“ und ein „Ciao“. Doch ich gehe nicht. Denn anstatt zu antworten, legt er den Kopf schief und mustert noch einmal nachdenklich meine Augen wie drei Stunden zuvor.
„Darf ich dich was fragen?“ In seinen Worten schwingt leise Unsicherheit mit.
Ich blicke ihn nur auffordernd an, sprechen ist heute einfach nicht meine Stärke.
„Schon klar, dir ist so gar nicht nach Anmache, so ist es nicht gemeint. Aber trägst du Kontaktlinsen?“
Anderen Frauen schaut man auf den Hintern oder auf die Brüste, bei mir sind es halt die blauen Augen. „Nein, keine Kontaktlinsen.“
„Wow. Okay … Gott liebt dich. Dein Leid wird vergehen.“
Tatsächlich muss ich schon wieder lachen, sehr leise, während ich mir verlegen eine Strähne hinter das Ohr streiche. O Mann …
„Gute Reise noch“, wünscht er mir, während er die ersten drei Schritte rückwärtsgeht.
„Danke“, erwidere ich mein persönliches Wort des Tages. „Dir auch.“ Damit wende ich mich um.
Als ich nach einigen Metern einen Blick über die Schulter werfe, sehe ich gerade noch, wie auch er sich umdreht und mir ein letztes Mal sein Lächeln schenkt, um dann zwischen den über den Bahnsteig hastenden Menschen zu verschwinden.
Und mit einem Mal fühle ich mich inmitten der unzähligen Unbekannten, deren Körper mich von ihm weg Richtung Treppe schieben, noch so viel verlorener als zuvor.